Gaddas Via Merulana
GADDA – Die gräßliche Bescherung
Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana (Quer pasticciaccio brutto de Via Merulana) ist der Titel des 1946 in einer Zeitschriftenserie und 1957 in erweiterter Form als Buch publizierten Romans des italienischen Schriftstellers Carlo Emilio Gadda (1893–1973).
Die chronologisch aufgebaute Handlung kann historisch und geographisch, mit Orts- und Straßenangaben (Vom Polizeipräsidium am Collegio Romano, in der Nähe des Pantheons, ermittelt Kommissar Francesco Ingravallo, genannt Don Ciccio, im Mordfall Liliana Balducci. Don Ciccios Dienststelle am Collegio Romano ist benannt nach der nahe gelegenen Kirche Santo Stefano del Cacco,Liliana Balducci gab ihrem Beichtvater Don Lorenzo Corpi von Santi Quattro Coronati, in der Nähe ihrer Wohnung, ihr Testament zur Aufbewahrung), genau bestimmt werden: Sie spielt vom 13. bis 24. März 1927, in der Zeit des Faschismus Mussolinis, in Rom sowie der Region Castelli Romani. Der erste Romanteil (Kp. 1, 2, 4) ist v. a. im Haus Via Merulana Nr. 219 (zwischen den Kirchen Santa Maria Maggiore und San Giovanni in Laterano), genannt der „Goldpalast“, lokalisiert: Hier isst am 20. Februar der zur Bereitschaftspolizei abkommandierte 35-jährige Doktor Francesco Ingravallo, genannt Don Ciccio, mit den befreundeten und weit verwandten Balduccis (Liliana, das spätere Mordopfer, ist die Kusine seines Vater) zu Mittag.
Gadddas Roman beginnt ähnlich einer klassische Kriminalerzählung, z. B. Edgar Allan Poes Der Doppelmord in der Rue Morgue (1841), in der Madame l’Espanaye, eine vermögende ältere Dame, mit durchschnittenem Hals aufgefunden wird (Zeitungsschlagzeile: „Das Trauerspiel in der Rue Morgue“, bei Gadda: »Grauenhaftes Verbrechen in der Via Merulana«, johlten die Zeitungsverkäufer”). Obwohl die Spuren am Tatort kein Mordmotiv erkennen lassen, Schmuck, u. a. ein Topas (Topas-Motiv auch bei Gadda), auf dem Boden zerstreut liegt und die Zeugenaussagen der Nachbarn nur spärliche akustische Hinweise auf den Täter enthalten, gelingt es dem Privatdetektiven August Dupin mit klugen Kombinationen, den Fall zu lösen. Auch die beiden Verbrechen in der Via Merulana werden von einem Spürnasen-Original untersucht, v. a. im ersten Fall scheint eine schnelle Aufklärung möglich (Fahrkarte, Motiv, Täterbeschreibungen). Trotz seines etwas verschlafen wirkenden Auftretens und seiner schwerfälligen Bewegungen ist der Detektiv als „allgegenwärtig, allwissend in den dunklen Affären und finsteren Fällen“ bekannt. Mit seiner Weltsicht eines multikausalen „Knuddels“ geht er an seine Fälle heran und versucht die „Vielzahl von konvergierenden Ursachen“ zu entwirren. Doch bereits in der Einleitungsphase entfernt sich Gaddas Roman von den Merkmalen des traditionellen Detektivromans: Die Einladung Ingravallos bei der Familie des späteren Mordopfers am 20. Februar entfaltet sich, aus dem scharfsinnigen Blickwinkel des Gastes und vermischt mit seinen Reflexionen und Gefühlen für die Attraktivität der Gastgeberin und ihrer Haushaltsgehilfin, zur nuancierten Schilderung eines Familienbildes der kinderlosen Balduccis, ihrer bei sich aufgenommenen und wieder ausgetauschten Nichten, des Lieblingsneffen Giuliano Valdarena und des Dienstmädchens Assunta Crocchiapani. Der Polizist ist von der erotischen Atmosphäre um die Signora Liliana fasziniert und diese emotionale „Befangenheit“ durch seine heimliche Liebe (höchste Schönheit, Herzenswärme, Vornehmheit der Züge, nobles Feuer und Schwermut, wunderbare Haut) und die eifersüchtige Antipathie gegenüber seinem virtuellen Rivalen (der schöne, junge Valderana) beeinflussen seine Hypothesen und Strategien. Obwohl der Kommissar die familiären Beziehungen zwischen Opfer und potentiellem Täter , teilweise in Form eines Inneren Monologs bzw. Dialogs mit sich selbst (Kp. 3), immer wieder durchdenkt und er in seinen Reflexionen auch Argumente nennt, die Giuliano entlasten[23], hält er an seiner Linie fest. Er wird damit selbst Teil des Knäuels und ist auf die Überführung Valdarenas, und später Assuntas, fixiert, weil er deren Motive offenbar falsch einschätzt. Auch fungiert Ingravallo nur am Anfang mit richtungsweisenden Beobachtungen als Typus des alles beherrschenden Kommissars, zunehmend setzt der Autor den in solchen Fällen in der Realität aktivierten großen Ermittlungsapparat ein: v. a. Doktor Fumi, Chef der Untersuchungsabteilung, die Sicherheitspolizisten Gaudenzio (der „Große Blonde“ aus Terracina) und Pompeo (der „Greifer“) sowie die Carabinieri-Unteroffiziere von Marino (Maresciallo Di Pietrantonio, Fabrizio Santarella, Brigadier Pestalozzi), alle haben ihre kleinen und großen Auftritte.
Gadda nutzt die Kriminalhandlung, die sich im ersten Teil über die Römische City ausbreitet, zu einem Gesellschaftsbild der Großstadt der 1920er Jahre. Die Via Merulana mit der Santa Maria Maggiore als nördliche Begrenzung verläuft schräg nach unten zur Mitte des rechten Bildrands. Vom Kolosseum zieht sich nach rechts unten die Via di San Giovanni in Laterano zur gleichnamigen Basilika, wo sie, außerhalb des Fotos, auf die Merulana trifft. Unterhalb der San-Giovanni-Straße steht auf dem Hügel Celio die von Liliana oft besuchte alte Kirche Santi Quattro Coronati.
Gadda hat seinen Roman zwar wie eine Kriminalgeschichte strukturiert: mit genauen Datumsangaben des Ablaufs der umfangreichen Polizei-Aktionen. Die Tatortbesichtigungen und Verhöre sowie die Wege der Polizisten in Rom oder die Überlandfahrten der Carabinieri dienen dem Autor allerdings als Vehikel zur Darstellung der Menschen und ihres Lebensraumes, der Stadt- und Naturlandschaft: z. B. zu ausführlichen Beschreibungen der Bewohner des „Goldpalastes“ mit den Treppenaufgängen A und B, und damit zur Charakterisierung einer gemischten sozialen Gruppe von der Portiersfrau Manuela Pettacchioni über den Beamten Commendator Filippo Angeloni, der sich von Ladenjungen Delikatessen in seine Wohnung liefern lässt, bis zum reichen Bürgertum (Balducci, Menecacci). Detailliert erzählt der Autor die Beobachtungen der Hausbewohner und orientiert sich dabei an deren Sprechweise wie Dialekt oder Jargon. Ebenso sind die Verhörprotokolle, beispielsweise der Ines Cionini oder Valdarenas, zu biographischen durch den Spachduktus und das Vokabular geprägten Erzählungen und Porträts ausgebaut: Giuliano Valdarena, Lilianes Schützling und Vertrauter, Liliana Balducci, geb. Valdarena, die Verwandtschaft der Valdarenas, Remos und Lilianes kinderlose Ehegeschichte aus Remos und Giulianos Perspektive, ihre Zuneigung zu Giuliano und die Projektion ihrer Wünsche auf Giulianos bevorstehende Ehe mit Renata in Genua, Lilianas vier „provisorische Adoptionen“ (Milena, Ines, Virginia, Gina). So setzt sich aus den verschiedenen Darstellungen das tragische Lebensbild der Ermordeten und ihres familiären Umfeldes zusammen.Verbunden sind diese Porträts mit Impressionen aus der römischen Altstadt mit ihren charakteristischen Straßen und Plätzen, wie dem bunten Viktualienmarkttrubel auf der Piazza Vittorio, wo Ascanio noch kurz vor seiner Verhaftung am Stand seiner Großmutter den Hausfrauen Kartoffeln anpreist.
In Polarität zum wohlhabenden bürgerlichen Lebensstandard stehen das aus der unteren sozialen Schicht stammende Dienstpersonal und, in Verbindung mit ihm, die zeitweise arbeitslosen jugendlichen Gelegenheitsarbeiter, die vom Glanz der Fassade des „Goldpalastes“ angezogen zu Kriminellen werden und ihre Freundinnen mit hineinziehen. Ihr Herkunftsgebiet ist meist die ländliche Region der „Castelli Romani“ südlich Roms.